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Biedermeier und Historismus

Nach den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress mit der Neuordnung der europäischen Staaten wünschten sich die Menschen Ruhe und Frieden und fanden beides in ihrem engsten häuslichen Umfeld. Eine Phase der Rückbesinnung auf althergebrachte Werte setzte ein. Mit Napoleons Aufhebung der Zünfte und der Ständeordnung erstarkte das europäische Bürgertum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mehrte die Nachfrage nach Kunst und Kultur. Die sozialen Schichten formierten sich neu, die aufsteigenden Klassen erhöhten den Bedarf an preiswertem Schmuck. Sozusagen zum ersten Mal in der Schmuckgeschichte konnte der Grossteil der weiblichen Bevölkerung an der Schmuckmode teilhaben und diese mitgestalten. Um der steigenden Nachfrage nach erschwinglichem Schmuck gerecht zu werden, wurden verstärkt mechanische Hilfen eingesetzt. Das heisst, der Goldschmied fertigte nun meist nicht mehr das ganze Schmuckstück handwerklich selber aus, sondern er bestellte bei Hilfsbetrieben sogenannte Halbfabrikate. Das waren Verzierungselemente, die maschinell und serienmässig in ausgewalztes Gold- oder Silberblech gedrückt wurden, und vom Goldschmied in das eigens hergestellte Stück eingefügt wurden. Zusätzlich konnte der Goldschmied, da die alten Zunftregeln nicht mehr galten, eine unbeschränkte Anzahl an weiteren Goldschmiedemeistern und –Gesellen einstellen.

Das romantische Weltbild des frühen Biedermeiers fand Gefallen an den schwärmerischen Themen der Empfindsamkeit, deren Gefühlskultur mitsamt Trauer- und Freundschaftskult, und den dazugehörigen Emblemen: Die mani in fede, Miniaturmalereien, Akronym-Ringe, Haare, Gimmel-Ringe, das Vergissmeinnicht, der Hund, die Turteltauben, das lodernde oder bekrönte Herz und die Initialen der frischgebackenen Ehefrau blieben weiterhin in Mode. Lediglich die Formensprache wurde modifiziert: Während im ausgehenden 18. Jahrhundert bis etwa 1820 die klassizistische Formensprache im Kunstgewerbe vorherrschte, also eine Rückbesinnung auf die klassische Antike, bezog das Biedermeier die Stilmerkmale der deutschen Gotik und Frührenaissance mit ein. Die Rückwendung zu den verschiedensten Zeitepochen nebeneinander findet im Historismus, Mitte des Jahrhunderts, seinen Höhepunkt, aber bereits im Biedermeier ist eine Vielfalt an historischen Ornamenten festzustellen.  
Immer noch mit einem starken Sinn für das Gemütvolle legten Mann und Frau der Romantik grossen Wert auf Liebes- und Eheringe. Der Geschmack verlangte nach auffälligerem, exaltierteren Schmuck mit grösseren Ringköpfen. Der Gimmel-Ring erfreute sich einmal mehr äusserster Beliebtheit. Unabhängig vom Entwurf wurden Eheringe von jetzt an immer mit dem Datum und den Initialen des Paares graviert. Es setzte sich der Brauch durch, dass der Ehering nicht nur von der Ehefrau, sondern auch vom Ehemann getragen wurde, der ebenfalls grosse Achtung vor der sentimentalen Bedeutung des Liebesbandes hatte. Honoré de Balzac schrieb 1834 aus Genf an die polnische Gräfin Ewelina Hanska, seine spätere Ehefrau, wie viel ihm ihr Freundschaftsring bedeutete: "Wenn ich arbeite, trage ich den Talisman an meinem Finger; Ich stecke ihn auf den Zeigefinger der linken Hand, mit der ich mein Papier halte, damit mich Dein Gedanke umfasst. Du bist da, bei mir. Jetzt, während ich in der Luft nach Worten und Ideen suche, frage ich diesen köstlichen Ring; darin habe ich die ganze Seraphita (Erzählung Balzacs) gefunden." (Lettres à Madame Hanska, S. 116.) 

Während sich die Männer in den vorangegangenen Jahrhunderten genauso gerne kostbar und aufwendig geschmückt hatten wie die Frauen, änderte sich dies mit den nüchternen Herrenanzügen Anfang des 19. Jahrhunderts: Höchstens der Ehering, der Siegelring, eine Krawattennadel, Manschettenknöpfe oder eine Uhrkette zierten den Herrn.

Die Romantik kann in vielerlei Hinsicht als Höhepunkt des sentimentalen Schmucks und der in der Empfindsamkeit entwickelten gefühlvollen Motive gesehen werden. Die ineinandergeschlungenen rechten Hände wurden während des Biedermeiers nicht nur als Ehe- und Liebesring ausgetauscht, sondern vermehrt auch als reines Freundschaftszeichen unter Freundinnen verschenkt. Zudem finden sich um 1840 im österreichischen Raum (Wien und Budapest) vermehrt Hände, die nicht ineinandergelegt sind, sondern zusammen ein Medaillon, Herz oder einen Edelstein halten. Der irische Claddagh-Ring benützt dieselbe Formensprache und zeigt zwei Hände, die ein Herz mit einer Krone halten. Das Herz symbolisiert Liebe, die Hände Freundschaft und Vertrauen, die Krone Treue und Loyalität (Abb. 14).

Abbildung 14

Abb. 14: Kollektion TN: Vier Ehe- und Liebesringe, 1. Hälfte 19. Jahrhundert, Silber, Silber vergoldet, Gold, facettierter Amethyst. Der linke Ring hält zwischen den Händen eine Plakette mit den Initialen der geliebten Person «MN». Beim zweiten Ring wird ein Amethyst gehalten. Der Edelstein, welcher der Sage nach vom Heiligen Valentin getragen wurde, Schutzpatron der Liebenden, soll u.a. tiefe Liebe und Treue symbolisieren. Die turtelnden Täubchen im dritten Ring stehen für das familiäre Glück und traute Heim. Der rechte Ring ist eine Abwandlung des Irischen Claddagh-Rings.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist ein deutlicher Rückgang der symbolisch aufgeladenen Bildsprache in den Eheringen zu erkennen, beschleunigt durch das Aufkommen der Verlobungsringe, die wir heute kennen. Diese waren normalerweise frei von Symbolik. Die einfache Ringschiene war besetzt mit dem wertvollsten Edelstein oder der besten Perle, die sich der Bräutigam leisten konnte. Mit der Vorgabe, dass der Verlobungsring der Mutter als Familienerbstück galt, welches an die nächsten Generationen weitervererbt werden sollte, wurde die klassische Form des Solitär-Rings bevorzugt. Die Bezeichnung leitete sich aus dem Französischen solitaire, einzeln, ab. Der Solitär-Ring blieb bis heute der beliebteste klassische Verlobungsring mit einem einzelnen Diamanten. Damals wurde während der Hochzeitszeremonie unter dem Brautpaar ein einfacher Goldring ausgetauscht, welcher mit einem Ehegelübde oder Wahlspruch beschriftet sein konnte, und in der Regel die Initialen des Paares und das Traudatum trug.

Diejenigen, welche Geschmack an den historischen Liebes- und Treuesymbolen fanden, konnten immer noch Ringe kaufen, die mit diesen sprechenden Motiven verziert waren. Begünstigt durch die Wiederentdeckung des Historischen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gerieten auch die ineinanderliegenden rechten Hände nicht in Vergessenheit. Diese Zeitepoche ist geprägt von einem raschen Wechsel der Moden und Einflüsse, von einem Nebeneinander verschiedener Stilrichtungen wie bereits erwähnt, von technischem Fortschritt und industrieller Herstellung, und schliesslich von einer Rückbesinnung auf das Handwerkliche. 

In Deutschland machte sich ab den 1850er und 60er Jahren eine Vorliebe für Stilformen des 16. Jahrhunderts bemerkbar. Der Höhepunkt dieser deutschen Neorenaissance war 1870/71 nach dem Sieg gegen Frankreich: Viele Deutsche identifizierten sich mit den Bürgern des 16. Jahrhunderts, als die Stellung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation noch unangefochten war und sich in den deutschen Reichsstädten eine bürgerliche Kultur entwickeln konnte. Das 1871 neugegründete deutsche Kaiserreich verlangte endgültig nach einem "nationalen Stil". Das Fehlen dieser "deutsch-nationalen" Formensprache beschrieb Georg Horn in der Wochenzeitschrift folgendermassen: "Die Gegenwart scheint zur Schaffung neuer Kunstformen nicht besonders angethan zu sein. Unsere Zeit hat einen grossen technischen Zug, welcher der ruhigen Bildung origineller Kunstformen nicht förderlich zu sein scheint (…). Wir standen mit unserem ganzen Kunstleben in Deutschland zu lange unter der sclavischen Nachahmung der Antike (…). Wir hatten eine Zeit vergessen, wo der deutsche Künstler und Handwerker sich die Formen der Antike in ureigenster Weise assimiliert und umgeschaffen hatte, sodass die deutsche Renaissance, wenn auch nicht unabhängig von den Anregungen durch die italienische und französische, doch ein selbsteigener Kunststil wurde". (Die Gartenlaube, 1878. Heft 17, S. 290.) 

Unterstützt durch Georg Hirths Publikation "Der Formenschatz der Renaissance - Eine Quelle der Belehrung und Anregung für Künstler und Gewerbtreibende wie für alle Freunde stilvoller Schönheit aus den Werken Dürers und Holbeins" fand die Kunstwelt den "nationalen Stil" in den beiden deutschen Renaissance-Malern Albrecht Dürer und Hans Holbein. Diese galten als die grössten Künstler aller Zeiten und ihre Renaissanceornamentik wurde genauestens studiert und kopiert. Bekannte Architekten entwarfen ebenfalls Schmuckstücke im Stil des 16. Jahrhunderts. So baute zum Beispiel Gottfried Semper nicht nur das Eidgenössische Polytechnikum in Zürich im Stil der Neorenaissance, sondern er fertigte auch Einzelentwürfe zu Vasen, Pokalen und Schmuckstücken mit neorenaissancistischer Formensprache an. Somit blieb auch das geschichtsträchtige Symbol der mani in fede während des Historismus erhalten (Abb. 15).

Abbildung 15

Abb. 15: Kollektion TN: Historismus, 2. Hälfte 19. Jh., Gold. Beide Ringe zeigen die Formensprache des Mittelalters und der Renaissance. Die Ringschiene des linken Ringes zieren zwei äusserst elegante schlanke gotische Hände mitsamt verzierten gerillten Manschetten. Beim rechten Ring umläuft das Fede-Motiv die Ringschiene und wiederholt sich dreifach. Die Hände halten zudem ein Herz und die Manschetten sind mit Blüten, womöglich Vergissmeinnichten manieristisch geschmückt.

Schmuck ist nicht lebensnotwendig, aber die Freude des Sich-Schmückens gehört praktisch zum Menschsein dazu. Schmuck ist seit jeher der Mode unterworfen, dem zeitgenössischen Geschmack, dem eigenen Budget und dem persönlichen Stil. Die Freude und das Bedürfnis einen Ring als Bürgschaft einer unwandelbaren Freundschaft und Liebe zu verschenken, findet sich seit der Antike. Wer sich für ein historisches Schmuckstück entscheidet, trägt Geschichte mit sich, wird Teil von ihr und schreibt sie weiter…

 

 

herz

 

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